„Hahnwaldbrücke“ heißt die neue Brücke über die Bahngleise an der Wiesbadener Straße, die seit der Montage der stählernen Brückenbögen im Juli 2023 das Niedernhausener Ortsbild mitprägt. Manchen Menschen in Niedernhausen mag dieser Name ungewöhnlich vorkommen oder überhaupt nichts sagen. Andere bekommen bei der Nennung des Namens leuchtenden Augen. Wir möchten einmal erklären, was hinter dem Namen steckt!
Zur Namensgebung kam es auf einem leichten Umweg: Den Anregungen von Niedernhausener Bürgerinnen und Bürgern folgend, rief der damalige Bürgermeister Joachim Reimann dazu auf, Vorschläge zu einer Benennung der Brücke einzureichen. Fast 100 Vorschläge gingen bei der Gemeindeverwaltung ein. Darunter waren sehr viele gute Ideen – Namen mit Lokalbezug, Namen, die sich auf die Bauweise der Brücke bezogen, auch ganz offensichtlich mit einem Augenzwinkern eingereichte Vorschläge. Die Benennung nach dem traditionellen Flurnamen „Schwarzland“ wurde vorgeschlagen, ein Name der sich auf die Tradition der Holzkohleproduktion bezieht. Andere Einsender hätten die Brücke gerne „Wunschbrücke“ genannt, weil sie als Kinder ihre Weihnachtswünsche von der Brücke in den Wind gerufen haben. Andere Vorschläge waren die Benennung nach einem bekannten Hotel oder dem Schillertempel. Als berühmte Niedernhausener wurden zur Benennung der Philosoph Karl Otto Apel oder der Showmaster Wim Thoelke vorgeschlagen.
Gemäß der Hauptsatzung der Gemeinde wurden die Vorschläge dem Niedernhausener Ortsbeirat vorgelegt, damit im Einvernehmen mit dem Gemeindevorstand ein Name ausgesucht werden sollte. Der Ortsbeirat nannte den Vorschlag „Nauroder Brücke“ als Favoriten. Hier erhob sich Protest von etlichen Niedernhausenerinnen und Niedernhausenern, besonders von Personen, die einen anderen Vorschlag eingebracht hatten… Der Kritikpunkt: Der Name „Nauroder Brücke“ habe keinen Lokalbezug. Hier könnte man zwei Dinge anführen: Zum einen ist es durchaus üblich, Straßen (und weniger häufig Brücken) nach Nachbarstädten und -kommunen zu benennen. Schließlich gibt es in Niedernhausen auch zum Beispiel eine „Idsteiner Straße“ oder eine „Neuhofer Straße“ – die Daseinsberechtigung dieser Namen wird auch nicht hinterfragt! Zum anderen hat die Benennung nach unserem Nachbarort Naurod durchaus Tradition: In früheren Zeiten nannte man die Straße, die wir als „Wiesbadener (!) Straße“ kennen, „die Nauerder Schossee“ (die Nauroder Landstraße).
Der gegen „Nauroder Brücke“ ins Gespräch gebrachte Gegenvorschlag war aber auch eine richtig gute Idee! Auf Anregung des Gemeindevorstandes diskutierte der Ortsbeirat das Thema erneut und einigte sich schließlich auf den Namen „Hahnwaldbrücke“.
Was hat es damit auf sich? „Hahnwald“ ist zunächst einmal der Name des bewaldeten Höhenrückens oberhalb der Straße „Schöne Aussicht“, an dessen höchstem Punkt sich der „Hahnberg“ erhebt. Hier zeugen noch heute die Villen des „Kurviertels“ aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von Niedernhausens Vergangenheit als Luftkurort. Das prächtigste Gebäude war die fast schon schlossähnliche „Villa Hahnwald“ in ihrem weitläufigen Park. Sie lag linkerhand vom heutigen Ortsausgang in Richtung Naurod gesehen. 1909 durch den Münchener Architekten Friedrich von Thiersch errichtet, gehörte die Villa seit 1931 der Familie des Wiesbadener Juristen und Lokalpolitikers Hanns Borgmann. Über viele Jahre hinweg waren die Villa und die Familie Borgmann ein Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in Niedernhausen Nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltete sich der Unterhalt von Villa und Park schwierig, so dass die Familie Borgmann das Gelände schweren Herzens verkaufen musste. Nach dem Abriss der „Villa Borgmann“ entstand hier das Wohngebiet „Feldbergblick“.
Auch die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur hat in Niedernhausen ihre Spuren unterhalten, einige davon am Hahnwald. Anfang der 30er Jahre wurde an der Zufahrt zum heutigen Reiterhof ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges im Stil der damaligen Zeit errichtet. Zur Eröffnung reiste „Reichsmarschall“ Hermann Göring an, regelmäßig fanden hier Gedenkfeiern und Aufmärsche der örtlichen Parteiorganisationen statt. Das Regime missbrauchte den Hahnwald nicht nur für politische Kundgebungen, auch eine Institution des NS-Staates fand hier ihren Platz: Die so genannten „Führerschule“, in der Verwaltungsangestellte im Sinne des Regimes ausgebildet wurden, befand sich in einem Gebäude an der Ecke „Schöne Aussicht“ und Wiesbadener Straße. Später hatte auf diesem Gelände der renommierte Fachbuchverlag „Falken-Verlag“ lange Jahre seinen Sitz.
Die wichtigste Bedeutungsebene des Hahnwalds ist aber eine viel schönere, denn der Hahnwald ist ein zentraler Punkt für die Niedernhausener Sport- und Vereinsgeschichte! Im Jahre 1913 gründete sich durch eine Abspaltung von der damaligen Turngemeinde jener Sportverein, den wir heute noch als den SV 1913 Niedernhausen kennen. Was als Turnverein begann, verschrieb sich in den 20er Jahren mit Haut und Haar dem Fußball, wofür natürlich ein richtiger Fußballplatz hermusste! Nachdem in den ersten Jahren buchstäblich „auf der grünen Wiese“ gespielt wurde, stellte die Gemeinde dem Verein ein Grundstück am Hahnwald zur Verfügung, auf dem 1932 der erste Niedernhausener Sportplatz eingeweiht wurde. Über viele Jahre hinweg war der Sportplatz am Hahnwald eine Niedernhausener Institution, wo fußballerische Triumphe und Tiefpunkte gefeiert und durchlitten wurden. Zahlreiche ältere „Nernhäuser“ erinnern sich noch gut an den Sportplatz und eine ganz besondere Atmosphäre, die dort herrschte. Mit einer gewissen Wehmut zog der SV 1913 Niedernhausen im Jahre 1976 auf die neue Sportanlage im Autal um. Auf den Fußball folgte der Reitsport: Am Hahnwald richtete sich der Niedernhausener Reitverein ein, nach dessen Auflösung wird die Anlage heute durch einen privaten Reitbetrieb genutzt.
Also alles in allem eine passende Namenswahl! Am Hahnwald haben verschiedene historische Phänomene Spuren hinterlassen, die für Niedernhausen wichtig oder sogar prägend waren: Sei es die Bedeutung als Kurort oder als Wirtschaftsstandort, und – ganz wichtig – als ein Ort, an dem der Sport die Menschen verbunden und ihre Gemeinschaft gefestigt hat. Der französische Historiker Pierre Nora prägte den Begriff des „Erinnerungsortes“ (lieu de mémoire) für einen Ort, der für eine Gruppe von Menschen durch ganze Schichten von Erinnerungen „aufgeladen“ ist. Der Hahnwald ist ganz klar ein solcher Ort für Niedernhausen. Die neue Brücke ist, so finden wir, ein passendes Denkmal für das, was dieser Ort für Niedernhausen bedeutet!
(Bild: Verschub der Brücke über die Bahngleise, Anfang Juli 2023. Bild: Jochen Haupt)