Historischer Spaziergang durch Niedernhausen

Historischer Spaziergang durch Niedernhausen


Konzept und Text: Jürgen Hartwich und Franz Krämer

Redaktionelle Bearbeitung: Philipp Wirtz (Kontakt: philipp.wirtz@niedernhausen.de ) 

 

 

Laufstrecke: 4,6 km

Laufzeit: Ca. 2-3 Stunden

 

Liebe geschichtsinteressierte Spazierende!

Wir begrüßen Sie recht herzlich zu unserem „historischen Spaziergang“ durch unsere Heimatgemeinde. Niedernhausen hat, gerade bei Neubürgern, den Ruf einer „Schlafstadt“ vor den Toren des Rhein-Main-Gebietes. Nicht immer wird Niedernhausen auch als Wohnort und zentraler Ort des Gemeinschaftslebens wahrgenommen. Es trifft zwar zu, dass historische Gebäude nicht gerade üppig gesät sind, aber Geschichte und Geschichten hat unsere Taunusgemeinde mehr als genug zu bieten – man muss nur ein wenig genauer hinsehen!

Zusammengestellt wurde die Route für diesen Spaziergang durch mehrere geschichtsinteressierte Niedernhausener und Mitglieder der Facebook-Gruppen „Nettes Niedernhausen“ und „Niedernhausen damals... Erinnerungen“. Der Spaziergang ist in mehrere Abschnitte eingeteilt. Man muss sie nicht zwingend zusammen oder in genau dieser Reihenfolge ablaufen.

Mit diesem Spaziergang möchten wir Ihnen die Geschichte Niedernhausens ein wenig näherbringen. Neu hierher gezogenen Menschen soll der Spaziergang helfen, den neuen Wohnort zu entdecken. Aber auch „alte Niedernhausener“ werden vielleicht etwas Neues entdecken oder eigene Erinnerungen neu wecken. Wir wünschen Ihnen viel Spaß!

Wichtiger Hinweis: Der folgende Text dient zum "Mitlesen" unterwegs, vielleicht auf dem Mobiltelefon oder Tablet. Hier gibt es eine Flyer-Version mit einigen zusätzlichen historischen Abbildungen - als zusätzliches Ansichtsmaterial, oder zum Herunterladen und Ausdrucken!



Abschnitt 1: Rathaus und Wilrijkplatz

Das Niedernhausener Rathaus sieht „irgendwie historisch“ aus, ist aber ein modernes Gebäude mit historischem Kern. Der Gebäudeflügel links vom Haupteingang ist das „alte Rathaus“, 1903 als Schule und Amtsgebäude der Gemeindeverwaltung anstelle eines früheren Schulgebäudes errichtet. Damals lag das Rathaus am Rand des Ortes. Der Bau wurde zwischen 1977 und 1981 in der jetzigen Form erweitert und 2023 umfassend saniert. Heute wird die Umgebung des Rathauses durch den nach Niedernhausens belgischer Partnergemeinde benannten Wilrijkplatz und die große Kreuzung geprägt. Dort wo heute die Frankfurter Straße an der Kreuzung endet, befand sich einst die weitläufige Hofreite der „Herrenmühle“, auch als „Hofgut Hirsch“ bekannt. Der Name Herrenmühle verweist auf Niedernhausen als Standort mehrerer Mühlen, die nicht nur Getreide mahlten, sondern die Wasserkraft von Theiß- und Daisbach auch für andere Zwecke nutzten. Gegenüber dem Rathaus weist der Straßenname „Zum Hammergrund“ auf eine solche „frühindustrielle“ Fertigungsstätte hin. Hier am Daisbach bestand bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts der „Hammer“, eine Anlage zur Verarbeitung von Eisen mit wassergetriebenem Schmiedehammer. Es gab im Taunus etliche solcher metallverarbeitenden Betriebe, bis sich mit der fortschreitenden Industrialisierung der Abbau von Eisen im kleinen Rahmen nicht mehr lohnte. Überlebt hat noch die so genannte „Michelbacher Hütte“ in Aarbergen, aus der die heutige Firma Passavant hervorging.

Ebenfalls im Hammergrund befand sich das erste Niedernhausener Schwimmbad, eine einfache Aufstauung des Daisbaches.

 

(Bild: Niedernhausener Rathaus nach der Sanierung 2023-24)

 Abschnitt 2: Felsenkeller, Grenzstein, Oberhausen

Vom Rathaus biegen wir am Tegut-Supermarkt in die Feldbergstraße ein und folgen ihr bergauf. Wir kommen in der ersten Kurve zu einem bis an die Straße reichenden Felsen mit einer etwas ramponierten blauen Metalltür darin. Das ist der Zugang zum „Felsenkeller“ oder „Eiskeller“. Hier wurde in früheren Zeiten Eis gelagert, dass man im Winter aus der Eisdecke von Weihern brach und bis in den Sommer hinein in kühlen Kellern lagerte. Vor der Erfindung des Kühlschrankes die einzige Möglichkeit, Lebensmittel kühl zu lagern! Im zweiten Weltkrieg diente der Felsenkeller als Luftschutzraum. Niedernhausen war als Eisenbahnknotenpunkt mehrfach schweren Bombenangriffen ausgesetzt. Hinter dem Felsenkeller erkennt man noch steil aufragende Sandstein-„Klippen“ – hier befand sich ein Steinbruch, in dem unter anderem das Baumaterial für die Alte Kirche gebrochen wurde.

(Bild: Eingangstür zum "Felsenkeller")

Unser Weg führt uns weiter geradeaus. Links sehen wir ein Wegkreuz, und auf der rechten Seite neben den Fußweg einen recht unscheinbaren kleinen Monolithen aus Sandstein. Dieser historische Grenzstein weist auf die Zeit hin, als eine „internationale Grenze“ quer durch Niedernhausen ging. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit bestand Deutschland aus über 30 unabhängigen Kleinstaaten, hier trafen mit dem Erzbistum Mainz und der Grafschaft Nassau zwei davon aufeinander. Die Grenze war ursprünglich durch das „Gebück“, eine dornige Hecke, markiert, bis man 1723 die Grenzsteine setzte. Auf der Seite nach Oberjosbach zu (bergauf) ist auf dem Grenzstein das Rad zu sehen, Attribut des heiligen Willigis und seit dem 11. Jahrhundert im Wappen der Mainzer Bischöfe. Auf der nach Niedernhausen weisenden Seite (bergab) zeigt der Grenzstein den Löwen aus dem Wappen des Hauses Nassau. Die Wiesen unterhalb unseres Standortes heißen die „Obernhäuser Wiesen“, und dieser Umstand weist darauf hin, dass es als Pendant zu Niedernhausen auch einmal ein Obernhausen gegeben hat. Er wurde 1233 zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt, wahrscheinlich bestand das Dorf aber schon länger. Orte mit der Endung „-hausen“ im Namen entstanden oft schon im 8. Jahrhundert, als Karl der Große (regierte 768 bis 814) und seine Nachfolger den noch recht dünn besiedelten Taunus vom Rhein aus kolonisierten.

(Bild: Der Grenzstein mit deutlich sichtbarem "Mainzer Rad")

Obernhausen ist eine so genannte „Wüstung“, also eine aufgegebene Siedlung. Außer der Straßenbezeichnung „Obernhäuser Weg“ und einigen Flurnamen ist nichts von dem Dorf übriggeblieben, das etwa an der Stelle des heutigen Waldschwimmbades gelegen haben könnte. Zwischen ca. 1300 und 1650 verschwanden in der „spätmittelalterlichen Wüstungsperiode“ eine ganze Reihe an Dörfern in unserer Region. Schuld daran waren Epidemien wie die Pestwellen des 14. Jahrhunderts und eine Verschlechterung des Klimas in der so genannten „kleinen Eiszeit“. Ein besonders schwerer Schlag für unsere Region war der dreißigjährige Krieg (1618-1648), der viele Dörfer im Taunus ganz oder fast unbewohnt zurückließ. Zur „Wiederbelebung“ ihres Landes warben die Grafen von Nassau wallonische Siedler im heutigen Belgien an. Diese „Neu-Niedernhausener“ haben ihre Spuren in Familiennamen wie Harsy, Horne, Biron oder Malsy hinterlassen.

 

Abschnitt 3: Vom Schäfersberg zur Alten Jugendherberge

Vom Grenzstein aus gehen wir wieder ein Stück den Hügel hinab. Kurz vor dem ersten Haus in der Feldbergstraße nehmen wir linker Hand den Fußweg mit Treppen den Hang hinauf. Oben angekommen biegen wir rechts ab. Wir befinden uns in der Straße „Am Felsenkeller“ im Wohngebiet „Schäfersberg“. Wie der Name schon sagt, wurde dieser Hügel landwirtschaftlich, unter anderem als Weidefläche, genutzt, bis er in den 1980er Jahren Neubaugebiet wurde. „Aus dem Felsenkeller“ biegen wir rechts in die Straße „Am Schäfersberg“ ein, an deren Ende wir schon als unser nächstes Etappenziel die Dächer und Türme einer großen Backsteinvilla erkennen. Dieses eindrucksvolle Gebäude hat sich der gebürtige Niedernhausener Karl Wilhelm Müller um 1900 als Alterssitz erbaut. Müller hatte als Arzt und Großherzoglich Oldenburgischer Sanitätsrat Karriere gemacht. Später diente das Anwesen als Jugendherberge und ist heute ein Wohngebäude. Sein Erbauer und dessen Ehefrau sind auf einem kleinen Privatfriedhof im Park der Villa (nicht öffentlich zugänglich) beerdigt.

(Bild: Die alte Jugendherberge)


Abschnitt 4: Alte Kirche mit Mariengrotte

Von der alten Jugendherberge biegen wir links wieder in die Hauptstraße ein, gehen am Seniorenzentrum vorbei über die Brücke und biegen rechts auf den Fußweg entlang der Frankfurter Straße ein. Halb links vom Fußweg führt eine schmale Straße den Hügel hinauf zur Alten Kirche. Vor dem Bau der großen Kreuzung war dies die südliche Ortseinfahrt nach Niedernhausen. Links des Weges sehen wir unter einem Eibenbaum eine Kerze leuchten. Eine Marienstatue mit Gedenkstein in einer „Grotte“ zeugt davon, dass sich in Niedernhausen vielleicht sogar einmal ein echtes Wunder ereignet hat… Kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges soll die heilige Jungfrau und Gottesmutter Maria höchstpersönlich einen schweren Bombenangriff auf Niedernhausen vereitelt haben. Die Wundertäterin war als Statue in einem benachbarten Garten zugegen, die Bomben fielen in unbewohntes Gebiet ohne jemand zu schaden. Der damalige katholische Pfarrer Stähler gab zum Gedenken an dieses Ereignis die Mariengrotte in Auftrag. Ein Anwohner, Herr Wilhelm Jungels, baute die Grotte mit Material aus einem Quarzitsteinbruch beim heutigen H+ -Hotel. Die eigentliche wundertätige Marienstatue war der Kirchengemeinde zu bunt. Durch Spendensammlung wurde die jetzt in der Grotte stehende schlichte Marienstatue erworben. Die „originale“ Statue befindet sich heute im Besitz der Familie Felber. Die Mariengrotte, viele Jahre Station der Niedernhausener Fronleichnamsprozession, war mit den Jahren von Bewuchs überwuchert und fast vergessen. In den Jahren 2016 bis 2024 wurde die Grotte durch den Einsatz engagierter Niedernhausener mit Unterstützung von Ortsbeirat und Gemeinde restauriert.


(Bild: Mariengrotte an der alten Kirche)

Der schlichte Sandsteinbau im Stil der Neogotik oberhalb der Grotte ist die ehemalige katholische Pfarrkirche Mariä Geburt, erbaut 1881-1885 als Kapelle und seit 1921 Sitz einer eigenen Pfarrei. Nach 1945 stieg die Einwohnerzahl Niedernhausens, zunächst durch aus Osteuropa geflüchtete Deutsche, später durch die diversen Neubaugebiete. Die alte Kirche wurde der katholischen Kirchengemeinde zu eng, so dass 1960 die neue Pfarrkirche Maria Königin an der Bahnhofstraße bezogen wurde. Die alte Kirche stand leer und schien dem Verfall geweiht. 1980 gründete sich der Verein Alte Kirche Niedernhausen e.V., der die Kirche seitdem als „Zentrum Alte Kirche (ZAK)“ erhält und dort eine Vielzahl von kulturellen Veranstaltungen organisiert.


 (Die Alte Kirche bei "April-Wetter"...)

 

Abschnitt 5: Hahnwaldbrücke und Schillertempel

An der Alten Kirche wenden wir uns links den Hügel hinauf entlang der Wiesbadener Straße. Hier erreichen wir bald ein eindrucksvolles Bauwerk, die Brücke über die Bahngleise, die seit dem Frühjahr 2024 das Niedernhausener Ortsbild mitprägt. Die neue Brücke ersetzt eine Betonkonstruktion aus den 1960er Jahren, die stark baufällig geworden und in Niedernhausen als die „Bröselbrücke“ bekannt geworden war. Bei ihrer Eröffnung im Mai 2024 wurde die neue Brücke „Hahnwaldbrücke“ getauft. Auf der Suche nach einem Namen für die Brücke wurden die Niedernhausener Bürgerinnen und Bürger um Vorschläge gebeten, über 100 Vorschläge gingen bei der Gemeinde ein. Viele davon offensichtlich mit einem Augenzwinkern gemeint! Der letztendlich gewählte Vorschlag „Hahnwaldbrücke“ bezieht sich auf die Bezeichnungen „Hahnwald“ und „Hahnberg“ für die Flur und den bewaldeten Hügel oberhalb des Brückenstandorts. Besonders wichtig: Am Hahnwald am heutigen Ortsausgang in Richtung Wiesbaden befand sich von 1932 bis 1976 der erste Fußballplatz Niedernhausens! Für viele ältere Niedernhausener ist der Name Hahnwald unauslöschlich mit Momenten fußballerischer Triumphe und Tragödien verknüpft. Also durchaus ein wichtiger Erinnerungsort!

(Bild: Die Hahnwaldbrücke bei ihrer Eröffnung, Mai 2023.)

Am oberen Ende der Brücke machen wir einen Abstecher rechts bergauf einen Fußweg entlang. Dieser führt uns zu einem wenig bekannten Niedernhausener „Geheimtipp“. Auf der Böschung oberhalb der ausgedehnten Gleisanlagen am Niedernhausener Bahnhof liegt mit wunderbarer Aussicht ein rustikaler Holzpavillon mit Sitzgruppe – perfekt für eine Pause! Dies ist der „Schillertempel“, erbaut 1905 vom Niedernhausener „Heimat- und Verkehrsverein“ zum Gedenken an den 100. Todestags des Dichters Friedrich Schiller. Wie auch die Mariengrotte an der Alten Kirche geriet auch dieser Ort über die Jahre etwas in Vergessenheit und wurde seit 2018 wiederum durch ehrenamtliches Engagement wiederhergerichtet.


(Bild: Der mit viel Einsatz wieder hergestellte Schillertempel.)


Abschnitt 6: Villa Hahnwald und das Kurviertel

Zurück auf der Wiesbadener Straße wenden wir uns rechts und gehen bergauf. An der Einmündung zur Straße „Am Hahnwald“ machen wir kurz halt. Auf der rechten Straßenseite sehen wir ein Haus mit markanten Natursteinelementen an der Fassade. Dieses Gebäude gehörte als „Gärtnerhaus“ zu einer großen Villa mit weitläufigem Park, die oberhalb der heutigen Straße „Am Hahnwald“ lag. 1909 durch den Münchener Architekten Friedrich von Thiersch errichtet (der auch am Bau des Wiesbadener Kurhauses maßgeblich beteiligt war), gehörte die Villa seit 1931 der Familie des Wiesbadener Juristen und Lokalpolitikers Hanns Borgmann. Über viele Jahre hinweg waren die Villa und die Familie Borgmann ein Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in Niedernhausen Nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltete sich der Unterhalt von Villa und Park schwierig, so dass die Familie Borgmann das Gelände schweren Herzens verkaufen musste. Nach dem Abriss der „Villa Borgmann“ entstand hier das Wohngebiet „Feldbergblick“.

Es geht weiter bergauf, dann biegen wir rechts ab in die letzte Straße vor dem Ortsausgang in Richtung Wiesbaden. Auf der Ecke steht ein markantes Wohn- und Geschäftshaus, gegenüber führt ein Weg den bewaldeten Hang hinauf zum ehemaligen Sportplatz, heute ein Reiterhof.

Auch die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur hat in Niedernhausen ihre Spuren unterhalten, einige davon hier oben am Hahnwald. Anfang der 30er Jahre wurde an der Zufahrt zum heutigen Reiterhof ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges im Stil der damaligen Zeit errichtet. Zur Eröffnung reiste „Reichsmarschall“ Hermann Göring an, regelmäßig fanden hier Gedenkfeiern und Aufmärsche der örtlichen Parteiorganisationen statt. Das Regime missbrauchte den Hahnwald nicht nur für politische Kundgebungen, auch eine Institution des NS-Staates fand hier ihren Platz: Die so genannte „Führerschule“, in der Verwaltungsangestellte im Sinne des Regimes ausgebildet wurden, befand sich in einem Gebäude an der Ecke „Schöne Aussicht“ und Wiesbadener Straße. Später hatte auf diesem Gelände der renommierte Fachbuchverlag „Falken-Verlag“ lange Jahre seinen Sitz.

(Bild: Schöne Aussicht - hinter dem Bewuchs verbergen sich die Villen des ehemaligen Kurviertels)

Bergab führt uns die Straße „Schöne Aussicht“ durch Niedernhausens ehemaliges touristisches Zentrum! Hier zeugen noch heute die Villen des „Kurviertels“ aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von Niedernhausens Vergangenheit als Luftkurort. Die noch erhaltenen „Kurlisten“ zeugen von vielen Besuchern aus der guten Gesellschaft Wiesbadens und Frankfurts. In Niedernhausen konnte man der schlechten Luft der Städte entfliehen und buchstäblich „durchatmen“. Gute Luft und ein recht angenehmes Klima hat unsere Gemeinde aber heute noch!!!

 

Abschnitt 7: Pulvermühle und Standort der ehemaligen Lederfabrik

Am Ende der „Schönen Aussicht“ und am Fuß des Hügels angelangt, fällt rechter Hand eine moderne Wohnanlage auf, die im optischen Kontrast zu den Villen des Kurviertels steht. An dieser Stelle befand sich eine große Mühlenanlage, die ursprünglich als „Schleifmühle“ bekannt war – anscheinend wurden hier mit Wasserkraft Schleifsteine bewegt. Der heutige Flur- und Straßenname „Pulvermühle“ gibt Zeugnis davon, dass hier einst wahrscheinlich Zutaten für Schießpulver hergestellt wurden. Ein wichtiges Material bei der Herstellung von Schießpulver ist Holzkohle. Diese wurde in den Taunuswäldern in großen Mengen hergestellt, weil man sie außer zum Mischen von Schießpulver auch zum Verarbeiten von allen Arten von Metall benötigte. In den Wäldern rund um Niedernhausen sind die Standorte alter Kohlenmeiler zum Teil heute noch zu sehen!

In der Blütezeit des Luftkurortes Niedernhausen diente die Pulvermühle schon längst saubereren und friedlicheren Zwecken, sie war nämlich ein beliebtes Ausflugslokal, das inoffizielle „Kurhaus“ Niedernhausens. Auf alten Postkarten aus der Zeit um 1900 ist vermerkt, dass die Pulvermühle einen der ersten Telefonanschlüsse in Niedernhausen hatte, nämlich den mit der Rufnummer „2“…

An der Pulvermühle überqueren wir den Lauf des Theißbaches, der westlich von uns im Theißtal entspringt. Wenn wir links abbiegen würden, kämen wir an die markante Brücke, die die Autobahn A3 über das Theißtal führt. 1934-36 erbaut, ist die Brücke heute noch das Wahrzeichen Niedernhausens. Hinter der Brücke führen eine Reihe schöner Wander- und Radwege durch das Theißtal, zum Jagdschloss Platte und schließlich nach Wiesbaden. Aber heute biegen wir rechts ab in die Platter Straße!

(Bild: Früher Industriestandort, heute Lidl-Parkplatz, links die Eisenbahnunterführung Platter Straße.)

Hier kommen wir zum großen Parkplatz vor dem Lidl-Markt. Direkt vor dem Eingang des Supermarktes erkennt man, dass der Lauf des Theißbaches hier im rechten Winkel verschwenkt ist. An der Stelle des Lidl-Gebäudes befand sich eine Lederfabrik, die aus dem Bachlauf das Wasser zur Lederverarbeitung entnahm. Leder gerben benötigt viel Wasser, daher sind die Bachtäler im Taunus traditionell Standort lederverarbeitender Betriebe. In Idstein erinnern der „Löherplatz“ mit dem „Gerberhaus“ noch an diese Industrien.

An dieser Stelle queren zwei Unterführungen die Eisenbahnlinie. Links von uns führt ein großer Tunnel die Platter Straße unter den Gleisen hindurch. Rechts von uns, verdeckt durch das Gebäude des Lidl-Marktes, bringt ein kleinerer Tunnel den Bachlauf durch den Bahndamm. Beide Tunnel wurden im 2. Weltkrieg von den Niedernhausenern als behelfsmäßige Luftschutzräume bei Bombenangriffen genutzt.

  

Abschnitt 8: Durch den Ortskern zur katholischen Kirche „Maria Königin“ und zurück zum Rathaus.

Wir wenden uns jetzt der letzten Etappe des Spaziergangs zu. Durch den Straßentunnel folgen wir der Platter Straße und biegen links in die Bahnhofstraße ab. Jetzt sind wir im Ortskern von Niedernhausen. Das Viereck aus Bahnhofstraße, Austraße, unterer Wiesbadener Straße und Idsteiner Straße bildet sozusagen das „kommerzielle Herz“ von Niedernhausen. Hier sind viele Geschäfte zu finden, aber es hat sich auch einiges verändert! Niedernhausen besaß mehrere Bäckereien, Metzger, kleinere Einzelhandelsgeschäfte, Friseursalons und – ganz wichtig! – Gastwirtschaften! Wenn wir vor dem Abbiegen nach links in die Bahnhofstraße einen kleinen Abstecher nach rechts machen, sehen wir vor uns zwei markante Gebäude. Das rechte trägt zur Straßenseite hin den Schriftzug „Zum Trompeter“. Die einzige verbleibende Spur einer berühmten Niedernhausener Gastwirtschaft, deren Saalbau für die verschiedensten Veranstaltungen und sogar für Kinovorführungen genutzt wurde! Das gelb verputzte Gebäude gegenüber war einst das Gasthaus „Zum goldenen Lamm“ – man fragt sich, wie sich wohl die Nachbarschaft der beiden konkurrierenden Gasthäuser gestaltete… Das ehemalige „Goldene Lamm“ wird immer noch gastronomisch genutzt, nämlich durch ein beliebtes italienisches Restaurant.


(Das Gasthaus "Zum Trompeter" auf einer Postkarte Anfang des 20. Jahrhunderts - ebenfalls zu sehen: Das Rathaus)


Ansonsten zeigen sich im Niedernhausener Ortskern im Kleinen beispielhaft große Wandlungsprozesse. Der Verkauf von Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs ist größtenteils in die großen Supermärkte „abgewandert“. Viele kleinen Lebensmittel- und Einzelhandelsgeschäfte sind verschwunden, stattdessen sind Friseure weiter vertreten, dazu gibt es mehrere Apotheken, Arztpraxen, Optiker, Hörgeräteakustiker, eine Fahrschule und ein Sanitätshaus. In der Austraße residiert weiter der traditionsreiche Friseursalon Schmall, gegenüber hat ein Kunsthandel und Auktionshaus im Gebäude einer ehemaligen Bankfiliale einen neuen Sitz gefunden. Das einzige Schreibwarengeschäft in der Bahnhofstraße musste leider schließen, dafür gibt es in der Austraße ein kleines, aber im wahrsten Sinne feines Geschäft für Delikatessen. 

 

(Bild: Die Bahnhofstraße mit der katholischen Kirche.)

Aus der Bahnhofstraße biegen wir rechts in die Austraße ein. Das Areal zwischen Bahnhofstraße und Austraße wird durch die 1960 erbaute katholische Kirche „Maria Königin“ geprägt. Der moderne Kirchenbau ersetzte die zu klein gewordene Alte Kirche, die wir schon kennen. Ein Blick in die Kirche hinein lohnt sich auch, der Innenraum ist mit sehr eindrucksvollen Wandmalereien im Stil und Geschmack der Entstehungszeit geschmückt. In der Austraße, Hausnummer 8, fällt uns ein weißes Gebäude mit einem von Säulen getragenen Vordach auf. Dies ist das St. Josefs-Haus, seit 1925 Sitz des katholischen Kindergartens. Wir biegen rechts ab in die Hofeinfahrt, hier geht es zum Hof des Kindergartens mit Spielplatz und Zugang zur Kirche.

Jetzt heißt es genau hinschauen, wir suchen ein verstecktes Relikt der Niedernhausener Geschichte! Auf der rechten Seite wird der Spielplatz des Kindergartens gegen die angrenzenden Grundstücke von einer sehr massiven Mauer aus rotbraunem Sandstein mit einer Abdeckung aus Granitplatten abgeschlossen. Dies ist der letzte Rest der Umfassungsmauer des ehemaligen Niedernhausener Friedhofes, der sich auf diesem Areal befand. Bereits 1897 war der Friedhof bereits zu klein und wurde auf seinen jetzigen Standort außerhalb des Dorfes verlegt.

(Bild: Alte Friedhofsmauer im Hof des katholischen Kindergartens "St. Josef")

Am Ende der Austraße rechts abbiegend, kommen wir durch die Idsteiner Straße wieder zurück zum Rathaus und ans Ziel unseres historischen Spaziergangs. Hoffentlich war es für Sie eine spannende und unterhaltsame „Entdeckungsreise“! Nicht nur die großen Momente der Vergangenheit verdienen es, bewahrt zu werden. Auch die Lebenswirklichkeit der „kleinen Leute“ verdient es, in Erinnerung behalten zu werden. Auch vielleicht abgelegen wirkende Täler im Taunus wurden und werden von der „großen Weltgeschichte“ berührt und beeinflusst. Wenn man den kleinen und den großen Kontext im Blick behält, bekommt man Einsicht in das große Ganze!

Als Bürgerinnen und Bürger von Niedernhausen haben wir Einfluss auf die Zukunft unserer Gemeinde. Das Wissen darüber, woher wir kommen, hilft uns vielleicht dabei zu entscheiden, wohin wir gehen wollen.

(Bild: Blick auf Niedernhausen vom Schäfersberg)